Demokratieabbau in Hamburg
SPD baut Demokratie in Hamburg abVertrag für Hamburg entmündigt Bezirke und macht Bürgerentscheide unmöglichVon der Hamburger SPD-Alleinregierung wird derzeit - unter emsiger Mithilfe einiger sozialdemokratischer Bezirksamtsleiter und Funktionäre - Demokratie abgebaut, ohne dass die Öffentlichkeit und die Betroffenen es richtig bemerken. Betroffen sind vor allem die Bezirksparlamente sowie Bürger, die ihren gesetzlichen Anspruch auf direktdemokratische Mitentscheidung wahrnehmen wollen. Im Stadtstaat Hamburg wird gerade eine Art neues Regierungssystem eingerichtet. "Die Zusammenarbeit zwischen Senat und Bezirksämtern soll auf eine neue Basis gestellt werden", heißt es dazu im aktuellen Arbeitsprogramm des Senats auf Seite 35. Die Pläne des Senats und seiner Zuarbeiter in den Bezirken zielen darauf ab, die Macht der zentralen, SPD-beherrschten Exekutive in Hamburg entscheidend auf Kosten der demokratisch gewählten Bezirksgremien auszuweiten und gesetzlich garantierte Optionen der Teilhabe der Bürger an demokratischen Entscheidungen faktisch auszuschalten. Die Mittel zu dieser Entmachtung und Entmündigung von Bezirksparlamenten und Bürgern sind nicht Gesetzesänderungen unter der im Rechtsstaat vorgesehenen Beteiligung des Gesetzgebers. Vielmehr schließt der Senat - an der Bürgerschaft vorbei - Verträge mit den Bezirken ab. Darin müssen die Bezirke "freiwillig" umfangreiche Verpflichtungen eingehen, sich einer strengen Überwachung (Controlling) durch den Senat unterwerfen, und dabei einen erheblichen Teil der Entscheidungsrechte ihrer demokratisch gewählten Gremien an Mitglieder und Kommissionen des SPD-Senats abtreten. Ein erstes Beispiel dieser "Knebelverträge" ist der "Vertrag für Hamburg – Wohnungsneubau: Vereinbarung zwischen Senat und Bezirksämtern zum Wohnungsbau". Der Vertrag wurde am 4. Juli 2011 im Rathaus von den Senatsmitgliedern Olaf Scholz, Frank Horch und Jutta Blankau sowie von den sieben Bezirksamtsleitern und den Vorsitzenden der Bezirksversammlungen unterzeichnet. Die auch unter dem Namen "Wohnungsbauvertrag" bekannte Vereinbarung zwischen Senat und Bezirken sieht bereits zu Beginn eines Verfahrens strikte Anweisungen an die Bezirke durch eine auf Senatsebene erstellte landesplanerische Stellungnahme vor, "die im weiteren Verfahren von den Bezirken einzubeziehen ist". Weiter heißt es auf Seite 4 des Vertrages: "Über Meinungsverschiedenheiten bezüglich der landesplanerischen Stellungnahme entscheidet die Senatskommission für Stadtentwicklung und Wohnungsbau zu einem möglichst frühen Zeitpunkt." Auch im weiteren Verlauf jedes Verfahrens entscheidet laut Vertragstext (Seite 4) in allen offenen Konfliktfällen - also auch bei Bürgerbegehren - die "Senatskommission für Stadtentwicklung und Wohnungsbau unter Vorsitz des Ersten Bürgermeisters". "Eine Entscheidung der Senatskommission für Stadtentwicklung und Wohnungsbau ... ist für alle Behörden und Bezirksämter verbindlich. Für die jeweiligen Bezirksversammlungen und ihre Ausschüsse gilt die Rechtslage gemäß § 21 Bezirksverwaltungsgesetz." Und dort heißt es: "Bei ihren Entscheidungen ist die Bezirksversammlung an ... Entscheidungen des Senats ... gebunden." Wo die Bezirksversammlung nicht mehr frei entscheiden kann, da kann es auch kein Bürgerbegehren und keinen Bürgerentscheid mehr geben: Gemäß § 32 Absatz 1 Bezirksverwaltungsgesetz können "die wahlberechtigten Einwohnerinnen und Einwohner eines Bezirkes" nur in "Angelegenheiten, in denen die Bezirksversammlung Beschlüsse fassen kann, einen Bürgerentscheid beantragen (Bürgerbegehren)." Durch die "Knebelverträge" zwischen SPD-Senat und Bezirken wird also nicht nur die Entscheidungssouveränität der Bezirksversammlungen beschnitten. Vielmehr werden auch Gesetzesbestimmungen zu direktdemokratischen Bürgerabstimmungen in den Bezirken ohne Gesetzesänderung und ohne Beteiligung des Gesetzgebers administrativ außer Kraft gesetzt. Das Gesetzessurrogat "Vertrag für Hamburg" benötigt zur Aushebelung eines Bürgerentscheids nicht mehr die Evokation, d.h. die Anwendung des Rechts des Senats, eine bezirkliche Entscheidung im Einzelfall an sich zu ziehen: Laut "Wohnungsbauvertrag" befindet sich jedes Bauvorhaben von Anfang an in einem Zustand der "Dauerevokation", der Bürgerbegehren und Bürgerentscheide ausschließt. Evokation ist nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Die Besorgnis über dieses obrigkeitsstaatliche Vorgehen Hamburger SPD-Politiker wird noch verstärkt angesichts der Absicht des Hamburger SPD-Senats, zahlreiche weitere "Verträge für Hamburg" mit den Bezirken abzuschließen (siehe Seite 35 - 36 des Arbeitsprogramms des Senats). In ihnen soll "vereinbart werden, welche Ziele konkret vom Senat definiert werden und wie die Bezirksämter zu ihrer Erreichung beitragen sollen und können". Dabei sollen die Bezirke insbesondere auch "für ein gemeinschaftliches Denken und Handeln der Gesellschaft" sorgen. Verträge mit den Bezirken sollen - über den bereits vorliegenden "Wohnungsbauvertrag" hinaus - zu acht weiteren "zentralen Vorhaben des Senats" abgeschlossen werden, dabei auch Vorhaben mit potentiellem Verbrauch von Grün- und Freiflächen, so etwa für Gewerbeprojekte. Handelskammer und Senat haben hier bereits erheblichen Flächenbedarf angemeldet; darunter sind zahlreiche erhaltenswerte Landschaftsschutzgebiete mit reichhaltiger Flora und Fauna. Bürger, die die biologische Vielfalt und ein gesundes Stadtklima in Hamburg erhalten wollen, werden unter dieser SPD-Regierung keine Möglichkeit haben, ihr Recht auf direktdemokratische Mitbestimmung wahrzunehmen, weil dies durch die politische Gleichschaltung der Bezirke administrativ ausgeschlossen wurde. Dass der Hamburger Senat gemäß § 42 Bezirksverwaltungsgesetz befugt ist, den Bezirken "allgemein oder im Einzelfall Weisungen zu erteilen und Angelegenheiten selbst zu erledigen", steht außer Frage. Das Besondere am "Vertrag für Hamburg" ist indes, dass der Senat diese direkte Lösung einer allgemeinen Weisung nicht gewählt hat. Stattdessen sind die Bezirksversammlungen mit Hilfe eilfertig dem Senat zuarbeitender Bezirkamtsleiter dazu gebracht worden, "freiwillig" ihrer eigenen Entmachtung und Entmündigung sowie der administrativen Ausschaltung direktdemokratischer Bürgerrechte zuzustimmen. Auf diese Weise haben die Bezirksversammlungen dem Senat eine unpopuläre Arbeit abgenommen: ein Stück Obrigkeitsstaat in Hamburg einzurichten und sich dabei der unbequemen Bürgerentscheide zu entledigen. Bei der Ausnutzung seiner Weisungsbefugnis stützt sich der Senat auf die Möglichkeiten der "zentralistischen Verwaltungsgliederung Hamburgs aus dem Jahre 1939, die ... auch nach dem Zweiten Weltkrieg beibehalten" wurde (Wikipedia). Das aus vordemokratischen Zeiten stammende "Verfassungskonstrukt der Einheitsgemeinde Hamburg" verzichtet auf echte kommunale Selbstverwaltung; sie ist daher gekennzeichnet durch "minimale bezirkliche Eigenständigkeit" (Wikipedia). Mit dem "Vertrag für Hamburg" nutzt - wohl zum ersten Mal seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland - ein Hamburger Senat das autoritäre Potential des § 42 Bezirksverwaltungsgesetz in vollem Umfang aus, um - an der Bürgerschaft vorbei - ungehemmt bis zur Bezirksbasis "durchzuregieren" und dabei zugleich die gesetzlich garantierte Bürgermitbestimmung auszuschalten. Dass der Senat mit dem "Vertrag für Hamburg" sein parlamentarisches Kontrollorgan, die Bürgerschaft, systematisch umgeht, ja zur Bedeutungslosigkeit degradiert, verdeutlicht in besonderem Maße die mangelnde demokratische Legitimation der Senats-Bezirks-Verträge. Überdies plant der Senat laut Vertragstext (Seite 6), der Bürgerschaft wichtige Entscheidungskompetenzen im Bereich der Stadt- und Landschaftsplanung zu entziehen. Diese Entscheidungskompetenzen sollen den Bezirken übertragen werden, die fachlich dafür nicht ausgestattet und vor allem weisungsgebunden sind. Als oberste Entscheidungsinstanz wird erneut die allmächtige "Senatskommission für Stadtentwicklung und Wohnungsbau" genannt. Die geplante, nach § 6 Bauleitplanfeststellungsgesetz ausdrücklich untersagte "Aufgabenverlagerung" von der Landesebene auf die senatsgelenkte Bezirksebene soll nicht durch einen Beschluss der Bürgerschaft, sondern durch eine "Fachanweisung" des Senats in Kraft gesetzt werden. Die in diesen Plänen sichtbaren Bestrebungen des Senats, unter Umgehung der Bürgerschaft Aufgaben und Entscheidungen in die weisungsgebundenen Bezirke zu verlagern und sie damit einer unabhängigen demokratischen Beschlussfassung und Kontrolle zu entziehen, zeigen die Systematik und Zielstrebigkeit des gerade stattfindenden Demokratieabbaus. Dem neuen Hamburger Senat unter Führung des SPD-Vorsitzenden Olaf Scholz und des ehemaligen Handelskammer-Präses Frank Horch ist es mit Hilfe SPD-dominierter Bezirke innerhalb weniger Monate nach den Bürgerschaftswahlen gelungen, unter dem Vorwand eines Wohnungsbau-Notstandes die Bezirksversammlungen zu entmündigen, die Bürgerschaft als parlamentarisches Kontrollorgan zu deklassieren und hochrangige Bürgerrechte außer Kraft zu setzen. Wichtige Grundsätze einer vernunftgeleiteten Stadtentwicklungspolitik, wie Natur- und Denkmalschutz, werden von führenden Vertretern des Senats und der SPD in Pressekampagnen verhöhnt und stehen in der SPD-gelenkten städtischen Basta-Politik zur Disposition. Nennenswerter Widerstand gegen diesen radikalen Wechsel in der Hamburger Politik ist auf Seiten der etablierten Parteien bisher nicht zu erkennen. Es liegt also bei den Bürgern selbst, neue kreative Konzepte zu entwickeln, um dem Obrigkeitsstaat des neuen Machtkartells aus SPD und Handelskammer Paroli zu bieten.
"Projekte werden auch gegen Widerstand vor Ort durchgesetzt. 'Auch in betuchten Nachbarschaften wird es kein Vetorecht mehr geben', sagte der Wohnungsbau-Experte der SPD, Andy Grote," im "Hamburger Abendblatt" vom 20.5.2011. "Auch wenn die Bürger mehr eingebunden werden sollen - Sachs’ Haltung ist klar: Letztlich müsse die Politik entscheiden", heißt es in der "Welt" am 12.5.2011. Noch deutlicher wurde "Wohnungsbaukoordinator" Michael Sachs nach einem Bericht des "Hamburger Abendblatts" vom 2.6.2011 in einem "Zehn-Punkte-Katalog", den er tags zuvor in der Handelskammer vorgestellt hatte: "6 . Bei der Bauleitplanung sollte der Senat künftig konkrete Rahmenziele zum Wohnungsbau in den Bebauungsplänen der Bezirke vorgeben dürfen.
9 . Politiker müssen angesichts der direkten Demokratie ihre Rollen neu definieren - und nicht der Bürgerbeteiligung 'hinterherlaufen'." Unzweideutig äußerte sich auch der Verfasser des "Vertrags für Hamburg", Dr. Torsten Sevecke, nach einem WELT-Artikel vom 12.7.2011 über das Kernstück seines Machwerks: Es "sei mit dem Senat abgesprochen, dass dieser bei einer Verschärfung von Konflikten evoziere, also die Verfahren an sich ziehe. Somit würden Bürgerbegehren ins Leere laufen, da die Projekte dann auf Landesebene und nicht mehr auf Bezirksebene angesiedelt wären." Weitere Informationen über Hintergründe und Hintermänner des "Vertrags für Hamburg": Instrumentalisierung des Wohnungsbaus gegen Naturschutz und Bürgerrechte in Hamburg |
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