Hamburg braucht Wildnis
Hamburg braucht Wildnis!Zur Umsetzung der Nationalen Biodiversitäts-Strategie in der HansestadtEine der größten Herausforderungen der Menschheit Zu Ostern ein fotografischer Rückblick auf Vogelbegegnungen am Isebek im Winterhalbjahr 2022 / 2023 . Und aus dem Vorjahr: Frühling am Isebek und Schneezauber am Isebek. Dazu für Vogelfreunde: Vogelgesang am Isebek. Nach der von der Bundesregierung beschlossenen Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt hat Deutschland eine besondere Verantwortung für die Erhaltung von Arten und Ökosystemen, die ausschließlich oder schwerpunktmäßig in Deutschland vorkommen. Zum Schutz dieser Verantwortungsarten und -ökosysteme sind gebietsheimische Lebensräume bereitzustellen, in denen die Natur sich eigendynamisch und ohne Eingriffe entfalten kann. Dazu beschloss die Bundesregierung: • "Bis zum Jahre 2020 kann sich die Natur auf 2% der Fläche Deutschlands wieder nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten ungestört entwickeln und Wildnis entstehen." • "2020 beträgt der Flächenanteil der Wälder mit natürlicher Waldentwicklung fünf Prozent der Waldfläche." Dabei gilt: "natürliche Entwicklung auf zehn Prozent der Waldfläche der öffentlichen Hand bis 2020". • "Bis 2020 sind Fließgewässer und ihre Auen in ihrer Funktion als Lebensraum soweit gesichert, dass eine für Deutschland naturraumtypische Vielfalt gewährleistet ist. … Bis 2020 verfügt der überwiegende Teil der Fließgewässer wieder über mehr natürliche Überflutungsräume." • "Schutz des Wasserhaushalts intakter Moore und dauerhafte Wiederherstellung regenerierbarer Moore bis 2020" und "natürliche Entwicklung auf zehn Prozent der heute extensiv genutzten Niedermoore bis 2010 sowie von weiteren zehn Prozent bis 2020." Wildnis- und Naturwaldflächen, naturraumtypische Fließgewässer und Auen sowie natürlich sich entwickelnde Moore können auch in Hamburg einen wichtigen Beitrag zum Artenerhalt leisten und gleichzeitig der Naherholung und der Umweltpädagogik dienen. Dies soll im Folgenden näher erläutert werden. Naturschutz braucht WildnisWildnis ist, ganz allgemein, ein natürlicher oder naturnaher Teil der Erdoberfläche, der von Menschen weder genutzt noch gepflegt wird und auf der sich die Natur frei nach ihren eigenen Gesetzen entwickeln kann. Zunächst naturferne, sich selbst überlassene Flächen werden als Wildnisentwicklungsgebiete bezeichnet, in denen eine "neue Wildnis" entsteht. Wildnis-Schutz ist uneingeschränkter Naturschutz: die Natur wird dauerhaft von Nutzungen und pflegerischen Eingriffen freigehalten, so dass Entwicklungsprozesse natürlich und ungesteuert ablaufen können (Prozessschutz). Wildnis- und Prozessschutz sind von zentraler Bedeutung für die Umsetzung wichtiger Schutzziele der Nationalen Biodiversitätsstrategie, insbesondere die Erhaltung gebietsheimischer Arten und Ökosysteme, für die Deutschland eine besondere Verantwortung hat: 1. Schutz des Zersetzer-Nahrungsnetzes und der Bodenbildung Wildnisschutz zielt auf einen ganzheitlichen Schutz von Ökosystemen und ihrer Stoff- und Energieumsätze. Zum Funktionieren eines Ökosystems sind Organismen (Primär-produzenten, Autotrophe) erforderlich, die mit Hilfe der Sonnenenergie aus anorganischen Stoffen organische Stoffe herstellen, sowie andere Organismen (Zersetzer, Destruenten), die die abgestorbene organische Substanz wieder in anorganische überführen. Organismen, die sich von lebender organischer Substanz ernähren (Lebendfresser, also Pflanzen- und Tierfresser), sind in einem solchen Stoffkreislauf eigentlich nicht notwendig, aber in der Regel vorhanden. So werden in einem Wald-Ökosystem wie etwa dem Solling-Buchenwald nicht einmal 2 % der für die Heterotrophen (Zersetzer und Lebendfresser) zur Verfügung stehenden Energie von Pflanzen- und Tierfressern verbraucht, während die Zersetzer des Falllaubs und Totholzes, also Pilze, Bakterien und abfallfressende Tiere (Saprophage), gut 98 % des Energieflusses bestimmen. Ganz entscheidend sind im Wald-Ökosystem demnach unscheinbare Bodenorganismen, die das für das Ökosystem lebenswichtige Zersetzer-Nahrungsnetz aufrechterhalten, während die oft auffälligeren Lebendfresser, die bisher im Fokus des Naturschutzes stehen, eher die Rolle von Mitnutzern spielen. Auch sie profitieren indes von einem Wildnisschutz, der die Prozesse der Detrituszersetzung und Bodenbildung vor Eingriffen bewahrt und zum Beispiel auf die Entfernung von Totholz oder auch auf Bodenschädigungen durch Einsatz schweren Geräts verzichtet. 2. Schutz von Schlüsselarten (keystone species) Neben der Bedeutung von Organismengruppen für die Produktivität von Ökosystemen gibt es unabhängig davon Arten, die im Vergleich zu ihrer geringen Häufigkeit einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf die Artenvielfalt einer Lebensgemeinschaft ausüben (Schlüsselarten, keystone species). Diese Arten sind nur zum Teil bekannt. Der uneingeschränkte Natur- und Prozessschutz hat damit für das Ökosystem einen Versicherungseffekt. 3. Schutz des Reifungsprozesses von Ökosystemen Dauerhafter Wildnis- und Prozessschutz ermöglicht die Reifung von Ökosystemen: Ein "Urwald von morgen" oder ein wiedervernässtes Moor brauchen Jahrhunderte, um ihr Reifestadium zu erreichen. Mit der ökologischen Sukzession und Reifung steigt in der Regel der ökologische Wert von Ökosystemen. Zu erwarten ist eine Zunahme: der Biomasse, der Strukturvielfalt, der Artenzahl, der Zahl und der Komplexität zwischenartlicher Wechselbeziehungen, der Nischenspezialisierung, der Ökosystemfunktionen, der genetischen Vielfalt und der Stabilität der Ökosysteme, zum Beispiel gegenüber Neophyten. 4. Schutz der Mosaik-Zyklus-Dynamik Die freie Entwicklung der Natur, das Zulassen von Alterungs- und Zerfallsprozessen, die nacheinander und kleinräumig nebeneinander stattfindenden Neuanfänge der Sukzession schaffen in dauerhaft geschützten Wildnisgebieten eine mosaikartige Vielfalt von dynamisch wechselnden Entwicklungsstadien und Lebensraumstrukturen. Die dadurch geschaffenen, zahlreichen ökologischen Nischen bieten vor allem auch spezialisierten, oft hochgradig gefährdeten Arten einen Lebensraum. Wildnisse sind daher Hotspots der Biodiversität und Refugien bestandbedrohter Reliktarten. 5. Schutz der genetischen Vielfalt und Adaptivität Die natürliche Verjüngung mit standörtlich angepassten Pflanzen und der Verzicht auf Anpflanzung genetisch verarmter oder standortfremder Arten verschafft Wildnissen eine breite genetische Diversität und Plastizität. Damit sind sie in besonderem Maße befähigt, sich an sich verändernde Umweltbedingungen wie den Klimawandel anzupassen. 6. Schutz der natürlichen Evolution Die Biotop- und Artenvielfalt dauerhaft geschützter Wildnisse sowie ihre genetische Vielfalt bieten die Matrix für eine natürliche Evolution unabhängig vom Menschen. Dies schließt Prozesse der Adaption, der Selektion und der Koevolution ein. Wildnisse tragen daher nicht nur zum Artenschutz bei, sie ermöglichen auf lange Sicht auch die unverfälschte Entwicklung neuer Varianten, Unterarten und irgendwann schließlich Arten. 7. Schutz endemischer Arten ("Verantwortungsarten") Durch den Schutz gebietsheimischer Ökosysteme beim Wildnisschutz werden vorrangig auch endemische Arten geschützt, deren Gesamt- oder Hauptverbreitungsgebiet in Deutschland oder sogar im Hamburger Raum liegt (Beispiel: Schierlings-Wasserfenchel). Für den Schutz und den globalen Erhalt dieser Arten tragen Deutschland oder auch Hamburg eine besondere Verantwortung. 8. Klimaschutz durch Wildnisschutz Wildnisse - insbesondere totholzreiche Urwälder und sich regenerierende Moore - tragen durch Kohlenstoffbindung in hohem Maße zum Klimaschutz bei. 9. Wildnisschutz für die Wissenschaft Wildnisse sind wichtige Referenzflächen zur Beobachtung und Erforschung natürlicher Prozesse und Umweltveränderungen in einem hochgradig übernutzten und gepflegten Umfeld. 10. Gleiches Recht auf Urwald für alle Das Zulassen von Wildnis - insbesondere Urwald - vor Ort gibt der mit Recht erhobenen Forderung nach dem Schutz von Tropenwäldern und Naturreservaten anderenorts die angemessene Glaubwürdigkeit und Legitimation. Wildnisschutz in der PraxisDer Auswahl möglicher Wildnisflächen sollte wegen der notwendigen Dauer der Unterschutzstellung jeweils zunächst eine sorgfältige Untersuchung und Eignungsprüfung der Fläche vorausgehen. Wichtige Punkte sind: Flächengröße, geologischer Untergrund, Bodenbeschaffenheit, Relief, ökologische Zeigerwerte, Sukzessionsprognose, potenzielle natürliche Vegetation (PNV). Zu prüfen sind steuernde Initialmaßnahmen bei der Einrichtung von Wildnisentwicklungsgebieten, z.B. Entsiegelungen, Wegerückbau, Entfernung von Neophyten und anderem unerwünschten Bewuchs, Reduktion des Wildbestands. Die Ausführungsplanung regelt den Außenschutz (zum Beispiel durch Einrichtung von Pufferzonen oder durch Zonierung der Schutzzonen), die Begehbarkeit der Fläche, die Beaufsichtigung durch Ranger. In der Wildnis-Schutzverordnung ist der dauerhafte Prozessschutz der Fläche festzuschreiben. Gegebenenfalls sind die Naturschutzgesetze zuvor entsprechend zu ergänzen. Folgende Ökosysteme sind für den dauerhaften Prozessschutz in Hamburg relevant: Laubwälder, Moore, Flussauen, Tide-Elbniederung. Mit jeweils zu klärender Schutzdauer kommen hinzu: brachliegende oder auch naturnahe Flächen in der Stadt ("Urbane Wildnis") sowie Altlastflächen und Altspülfelder. Zum gezielten Auffinden geeigneter Flächen für den Prozessschutz in Hamburg wird vor-geschlagen, GIS-gestützte Kataster folgender Flächentypen anzulegen: historisch alte Wälder und Parks, totholzreiche Wälder und Parks, Flächen mit naturnahem Boden. Hinsichtlich der Größenordnung der in Hamburg auszuweisenden Wildnisflächen lassen sich die Zahlen der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt der Bundesregierung für das Jahre 2020 verwenden: • 1.510 ha wären in Hamburg bis 2020 als Wildnisflächen auszuweisen, "in denen Entwicklungsprozesse natürlich und ungestört ablaufen"; denn das wären 2 % der Landesfläche. Nähme man dafür nur Naturschutzgebiete in Hamburg in Anspruch, so wären das etwa 23 % der Naturschutzfläche in Hamburg (ohne den Nationalpark Hamburgisches Wattenmeer). • 370 ha Wald im Besitz der Stadt Hamburg wären aus der Nutzung zu nehmen, entsprechend dem Beschluss der Bundesregierung: "Natürliche Entwicklung auf 10 % der Waldfläche der öffentlichen Hand bis 2020". Bis zu Einrichtung dieser Naturwaldflächen sollte der Einschlag in Buchenwäldern mit einem Alter von über 140 Jahren in Hamburg ruhen. Natürliche Waldentwicklung in HamburgIn Hamburg sind bisher 37 Hektar Waldfläche verbindlich als Naturwaldreservate ausgewiesen, und zwar bei Eißendorf, bei Hausbruch, im Duvenstedter Brook und im Wohldorfer Wald. Das sind gerade 1 % der insgesamt 3.700 Hektar öffentlicher Waldfläche. Bis 2020 wären in Hamburg also weitere 333 Hektar für die Natürliche Waldentwicklung dauerhaft zu sichern, um das 10-Prozent-Ziel der Nationalen Biodiversitätsstrategie (NBS) zu erreichen. Bei der Umsetzung der NBS-Ziele in Hamburg sind eine Reihe wichtiger Aspekte zu beachten: • Potentielle natürliche Vegetation: Das Entwicklungspotential einer der Eigendynamik überlassenen Waldfläche lässt sich mit Hilfe von Karten der Potentiellen natürlichen Vegetation (PNV) abschätzen, wie sie auch für den Großraum Hamburg vorliegen. • Historisch alte Waldstandorte: Reste Historisch alter Wälder, die seit mindestens 200 Jahren ± kontinuierlich als Waldflächen genutzt werden, sollten in Natürliche Waldentwicklungsflächen miteinbezogen werden. Dadurch könnten Relikte natürlicher Waldflora und -fauna erhalten und als Quellpopulationen für die Wiederausbreitung dieser oft vom Aussterben bedrohten Arten genutzt werden. Für die Suche nach Historisch alten Waldstandorten können sog. Zeigerarten verwendet werden. • Natürliche Böden: Gut erhaltene, naturnahe Böden historischer Waldstandorte sollten als sog. Archivböden geschützt und als Kernbereiche Natürlicher Waldentwicklungsflächen genutzt werden. • Altholzbestände: Parallel zur Erfassung Historisch alter Waldstandorte, deren gegenwärtiger Bewuchs nicht unbedingt alt sein muss, sollten Altholzbestände mit Alt- und Höhlenbäumen, die meist besonders artenreich sind, als Hotspots kartiert und bevorzugt in die Natürliche Waldentwicklung einbezogen werden. Auch hier können Zeigerarten, zum Beispiel holzbewohnende Käfer, Fledermäuse oder höhlenbrütende Vögel, wie Mittelspecht, Schwarzspecht und Hohltaube, zum Auffinden von Altholzbeständen eingesetzt werden. • Wald-Biotopverbund: Zur Sicherung des genetischen Austauschs und der Wiederansiedlung ausgestorbener Teilpopulationen sollte bei der räumlichen Anordnung der Naturwald-Flächen auf die Möglichkeit der Vernetzung über Wald-, Auen- und Knick-Korridore geachtet werden (Waldbiotopverbund). |
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